13 Juli 2012

Der griechische Euro-Austritt wird nicht stattfinden

Andromache: Findest du es nicht anstrengend, immer nur Unheil vorauszusehen?
Kassandra: Ich sehe gar nichts voraus, Andromache. Ich trage nur zwei Dummheiten Rechnung: der Dummheit der Menschen und der Dummheit der Elemente.
Jean Giraudoux: Der trojanische Krieg wird nicht stattfinden, 1. Akt

War der trojanische Krieg wirklich nicht abzuwenden?
In seinem 1935 erschienen pazifistischen Theaterstück „Der trojanische Krieg wird nicht stattfinden“ beschrieb der französische Diplomat und Schriftsteller Jean Giraudoux eine deprimierende Szenerie: Kurz vor Ankunft der griechischen Flotte in Troja haben sich sämtliche Ursachen ihres Zwistes bereits aufgelöst, Paris hat längst das Interesse an Helena verloren, und die Heerführer Hektor und Ulysses wollen nichts lieber, als unnötiges Leid zu verhindern. Alle vernünftigen Gründe sprechen also für eine friedliche Lösung – doch eine kleine Gruppe von Kriegstreibern und eine aufgehetzte Bevölkerung befeuern den Konflikt immer weiter, bis es zuletzt trotz allem zum Zusammenprall kommt. Die Frage, ob er schicksalhaft und unvermeidbar war, lässt das Stück offen.

Nach den Wahlen in Griechenland vor einem Monat waren viele Menschen erstaunt darüber, wie plötzlich das Thema eines griechischen Austritts aus der europäischen Währungsunion von der Tagesordnung verschwand. In den Tagen vor den Wahlen schien der „Grexit“ kaum noch mehr als eine Frage der Zeit zu sein. Insbesondere die Forderung der linken Oppositionspartei Syriza (EL), über die Bedingungen der Hilfskredite neu verhandeln zu wollen, stieß in Brüssel und Berlin auf scharfe Ablehnung: Auf keinen Fall werde man sich darauf einlassen, und sollte die neu gewählte griechische Regierung sich nicht an das vereinbarte Reformprogramm halten, so werde man unmittelbar die Unterstützung beenden, was mindestens einen Staatsbankrott, vielleicht aber auch den Euro-Austritt zur Folge gehabt hätte.

Als nach der Wahl jedoch die Parteien ND (EVP) und PASOK (SPE) eine Koalition bildeten, ging ein Seufzer der Erleichterung durch Europa. Dass der neue Ministerpräsident Antonis Samaras (ND/EVP) nun seinerseits Nachverhandlungen forderte – zuletzt war von einer Streckung der Reformagenda um zwei Jahre die Rede –, wurde zwar wenig erfreut, aber doch recht entspannt aufgenommen. Die Bundesregierung nannte die Forderung „völlig inakzeptabel“, und der Internationale Währungsfonds erklärte, man werde mit Griechenland nicht „verhandeln“, sei jedoch offen für „Gespräche“. Von einem Euro-Austritt aber spricht niemand mehr. (Update: siehe das Postskriptum am Ende dieses Artikels.)

Keine rationalen Gründe für den Euro-Austritt

Dieser Stimmungswandel hat einen recht einfachen Grund: Wie ich hier schon im Mai geschrieben habe, hätte nach Abwägung der verschiedenen Vor- und Nachteile weder Griechenland noch der Rest der Eurozone einen Nutzen aus dem Austritt. Ein Staatsbankrott, eine kaum kontrollierbare Inflation, ein Zusammenbruch des (nicht nur griechischen) Finanzsystems, eine Kapitalflucht aus anderen Krisenländern, eine scharfe Rezession der gesamten Eurozone und allerlei weiteres Chaos wären die wahrscheinlichen Folgen. Das kann niemand wollen, der ernsthaft das Gemeinwohl im Blick hat – selbst wenn er dabei nur an nationale, nicht gesamteuropäische Interessen denkt. Solange sich alle Akteure rational verhalten, wird es deshalb nicht zum griechischen Euro-Austritt kommen. Das Säbelrasseln vor den Wahlen muss im Nachhinein als schnöde Wahlkampfhilfe für die etablierten griechischen Parteien gewertet werden, die den übrigen EU-Regierungen als umgänglicherer Verhandlungspartner erschienen als die Syriza.

Doch ist damit die Gefahr wirklich schon gebannt? Leider nicht, denn nur weil etwas rational (im Sinne des ökonomischen Gemeinwohls) ist, muss es noch lange nicht in die Tat umgesetzt werden. Bedenkt man die „Dummheit der Menschen und die Dummheit der Elemente“, dann scheint es mir vor allem zwei Risiken zu geben, dass die Währungsunion zuletzt doch noch zerfällt.

Mit dem Grexit lässt sich Geld verdienen

Das erste Risiko liegt in dem, was man in der Politikwissenschaft ein Prinzipal-Agenten-Problem nennt: die Gefahr, dass die politischen Eliten in Griechenland (aber auch anderswo) andere Eigeninteressen haben könnten als die Gesamtheit ihrer Bevölkerung, die sie gewählt hat. So ist es im Moment verhältnismäßig einfach, an einem möglichen griechischen Euro-Austritt Geld zu verdienen: Man muss sich dafür lediglich bei einer griechischen Bank verschulden und die entsprechende Kreditsumme in einem der „sicheren“ Euro-Länder unterbringen – etwa indem man in Deutschland eine Immobilie kauft, die man mit einer griechischen Hypothek finanziert. Tritt Griechenland dann aus der Währungsunion aus, würde der Kredit in Drachmen umgewandelt, sodass sich nach der zu erwartenden massiven Abwertung die Schulden weitgehend auflösen würden. Die deutsche Immobilie dagegen behielte ihren Wert in Euro.

Solche Wetten auf den Grexit sind keine ausgefallenen Finanzkonstruktionen für diabolische Banker, sondern stehen letztlich jedem offen, der hinreichend solvent, kreativ und risikobereit ist. Bis zu welchem Grad sie tatsächlich getätigt werden, entzieht sich meiner Kenntnis. Kein Zweifel aber besteht darin, dass in den letzten Monaten viele Griechen, die sich das leisten konnten, ihre Vermögen nach und nach sicher im Ausland untergebracht haben. Für die wohlhabende Elite des Landes sinken damit die mit einem Euro-Austritt verbundenen Risiken – schlimmstenfalls bis zu dem Grad, wo sie aus dem kollektiven Ruin individuellen Profit ziehen können und somit die Rationalität des nationalen (und europäischen) Gemeinwohls gegen die Rationalität des persönlichen Nutzens steht.

Und die Bevölkerung?

Dagegen lässt sich einwenden, dass der größte Teil der Bevölkerung (all jene, die nicht von einem im Ausland sicher deponierten Sparvermögen leben, sondern von einem Lohn, der kaum mehr als den monatlichen Konsum abdeckt) nach wie vor unter dem Austritt aus der Währungsunion zu leiden hätte. Dementsprechend sollten Politiker, die mit der Wiedereinführung der Drachme werben, bei den Wählern kaum auf Zustimmung stoßen. Und in der Tat gab es bei den griechischen Wahlen keine ernstzunehmende Partei, die das in ihrem Programm gehabt hätte.

Aber wäre das auch der Fall, wenn sich die Krise weiter verschärft – wenn die Rezession anhält, die Arbeitslosigkeit zunimmt, das soziale Elend wächst, und bei alledem die Europäische Union mit ihrem radikalen Sparkurs als der Schuldige erscheint? Das Potenzial für nationalen Populismus ist derzeit enorm, und zwar gleichermaßen in den südeuropäischen Krisenländern wie in den nordeuropäischen Nettozahlerstaaten. Sollte sich tatsächlich die politische Elite in Griechenland für einen Euro-Austritt entscheiden, dann würde es ihr wohl nicht schwerfallen, mit entsprechender Rhetorik die Öffentlichkeit anzuheizen und einen Großteil der Bevölkerung auf ihre Seite zu ziehen. Und sie würde dabei nicht zuletzt auch in Deutschland auf die Unterstützung der Boulevardmedien und eines Teils der Regierungsparteien stoßen, die meinen, sich vor den deutschen Wählern mit einer Bestrafungsaktion gegen die „Pleite-Griechen“ profilieren zu können: Die bayrische CSU (EVP), nicht die Syriza war es, die im Mai am häufigsten von einem Euro-Austritt gesprochen hat.

Mauern gegen die Irrationalität

Wird der trojanische Krieg also stattfinden? Natürlich gibt es auch im heutigen Europa genügend Politiker, die sich für eine vernünftige Lösung der griechischen Probleme einsetzen: entschieden die nötigen Verwaltungs- und Strukturreformen voranzubringen, während die Haushaltskonsolidierung vorerst zurückgestellt wird, um die Konjunktur nicht weiter abzuwürgen. Aber werden sie sich durchsetzen können, wenn in absehbarer Zeit die Krise in ihre nächste Runde geht und sich der Tonfall in der Öffentlichkeit verschärft?

Was mir Hoffnung macht, dass die Populisten zuletzt erfolglos bleiben werden, sind vor allem die zeitlichen Hürden. Wäre es möglich, einen Austritt aus der Eurozone von einem Tag auf den nächsten umzusetzen, dann bin ich nicht sicher, ob es nicht früher oder später zu einer solchen Kurzschlusshandlung kommen würde. Doch die Wiedereinführung der Drachme wäre nicht nur mit einem erheblichen technischen Aufwand verbunden, sondern auch mit einer ganzen Reihe von verfassungsrechtlichen Hindernissen: Ein Austritt aus der Währungsunion ist in den derzeitigen europäischen Verträgen nicht vorgesehen und müsste deshalb erst einmal in einem separaten Abkommen zwischen Griechenland und den übrigen Mitgliedstaaten ausgehandelt werden. Diese zeitliche Dynamik kann wie eine Mauer gegen die Irrationalität wirken, da sie der Öffentlichkeit in jedem der beteiligten Länder die Möglichkeit verschaffen würde, ernsthaft die Vor- und Nachteile des Austritts abzuwägen.

Aber ob das genügen wird? Nachdem Ulysses sich im letzten Akt des Theaterstücks von Jean Giraudoux mit Hektor auf einen Abzug der griechischen Truppen geeinigt hat und von diesem gefragt wird, ob das nun eine List oder ein Zeichen von Größe sei, gibt er zur Antwort:
Ich versuche in diesem Augenblick nicht Euch zu überlisten, sondern das Schicksal. Es ist mein erster Versuch und darum umso verdienstvoller. […] Ich breche auf … aber ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, dass er sehr weit ist, dieser Weg, der mich von hier zu meinem Schiff führt.
Hoffen wir für die europäische Währungsunion weiter das Beste!

PS

Kaum hatte ich diesen Artikel abgeschlossen, da lese ich, dass der CSU-Generalsekretär Alexander Dobrindt sich wieder einmal für einen raschen griechischen Austritt aus dem Euro ausgesprochen hat. Oh, die Versuchung muss groß sein!

Bild: Johan Georg Trautmann [Public domain], via Wikimedia Commons.

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