Kassandra: Ich sehe
gar nichts voraus, Andromache. Ich trage nur zwei Dummheiten
Rechnung: der Dummheit der Menschen und der Dummheit der Elemente.
Jean Giraudoux: Der
trojanische Krieg wird nicht stattfinden, 1. Akt
In
seinem 1935 erschienen pazifistischen Theaterstück „Der
trojanische Krieg wird nicht stattfinden“ beschrieb der
französische Diplomat und Schriftsteller Jean Giraudoux eine
deprimierende Szenerie: Kurz vor Ankunft der griechischen Flotte in
Troja haben sich sämtliche Ursachen ihres Zwistes bereits aufgelöst,
Paris hat längst das Interesse an Helena verloren, und die
Heerführer Hektor und Ulysses wollen nichts lieber, als unnötiges
Leid zu verhindern. Alle vernünftigen Gründe sprechen also für
eine friedliche Lösung – doch eine kleine Gruppe von
Kriegstreibern und eine aufgehetzte Bevölkerung befeuern den
Konflikt immer weiter, bis es zuletzt trotz allem zum Zusammenprall
kommt. Die Frage, ob er schicksalhaft und unvermeidbar war, lässt
das Stück offen.
Nach
den Wahlen in Griechenland vor einem Monat waren viele Menschen
erstaunt darüber, wie plötzlich das Thema eines griechischen
Austritts aus der europäischen Währungsunion von der Tagesordnung
verschwand. In den Tagen vor den Wahlen schien der „Grexit“ kaum
noch mehr als eine Frage der Zeit zu sein. Insbesondere die Forderung
der linken Oppositionspartei Syriza (EL), über die Bedingungen der
Hilfskredite neu verhandeln zu wollen, stieß in Brüssel und Berlin
auf scharfe Ablehnung: Auf keinen Fall werde man sich darauf
einlassen, und sollte die neu gewählte griechische Regierung sich
nicht an das vereinbarte Reformprogramm halten, so werde man
unmittelbar die Unterstützung beenden, was mindestens einen
Staatsbankrott, vielleicht aber auch den Euro-Austritt zur Folge
gehabt hätte.
Als
nach der Wahl jedoch die Parteien ND (EVP) und PASOK (SPE) eine
Koalition bildeten, ging ein Seufzer der Erleichterung durch Europa.
Dass der neue Ministerpräsident Antonis Samaras (ND/EVP) nun
seinerseits Nachverhandlungen forderte – zuletzt war von einer
Streckung der Reformagenda um zwei Jahre die Rede –, wurde
zwar wenig erfreut, aber doch recht entspannt aufgenommen. Die
Bundesregierung nannte die Forderung „völlig inakzeptabel“,
und der Internationale Währungsfonds erklärte, man werde mit
Griechenland nicht „verhandeln“, sei jedoch offen für
„Gespräche“. Von einem Euro-Austritt aber spricht niemand mehr. (Update: siehe das Postskriptum am Ende dieses Artikels.)
Keine rationalen
Gründe für den Euro-Austritt
Dieser
Stimmungswandel hat einen recht einfachen Grund: Wie ich hier
schon im Mai geschrieben habe, hätte nach Abwägung der
verschiedenen Vor- und Nachteile weder Griechenland noch der Rest der
Eurozone einen Nutzen aus dem Austritt. Ein Staatsbankrott, eine kaum
kontrollierbare Inflation, ein Zusammenbruch des (nicht nur
griechischen) Finanzsystems, eine Kapitalflucht aus anderen
Krisenländern, eine scharfe Rezession der gesamten Eurozone und
allerlei weiteres Chaos wären die wahrscheinlichen Folgen. Das kann
niemand wollen, der ernsthaft das Gemeinwohl im Blick hat – selbst
wenn er dabei nur an nationale, nicht gesamteuropäische Interessen
denkt. Solange sich alle Akteure rational verhalten, wird es deshalb
nicht zum griechischen Euro-Austritt kommen. Das Säbelrasseln vor
den Wahlen muss im Nachhinein als schnöde Wahlkampfhilfe für die
etablierten griechischen Parteien gewertet werden, die den übrigen
EU-Regierungen als umgänglicherer Verhandlungspartner erschienen als
die Syriza.
Doch
ist damit die Gefahr wirklich schon gebannt? Leider nicht, denn nur
weil etwas rational (im Sinne des ökonomischen Gemeinwohls) ist,
muss es noch lange nicht in die Tat umgesetzt werden. Bedenkt man die
„Dummheit der Menschen und die Dummheit der Elemente“, dann
scheint es mir vor allem zwei Risiken zu geben, dass die
Währungsunion zuletzt doch noch zerfällt.
Mit dem Grexit lässt
sich Geld verdienen
Das
erste Risiko liegt in dem, was man in der Politikwissenschaft ein
Prinzipal-Agenten-Problem nennt: die Gefahr, dass die politischen
Eliten in Griechenland (aber auch anderswo) andere Eigeninteressen
haben könnten als die Gesamtheit ihrer Bevölkerung, die sie gewählt
hat. So ist es im Moment verhältnismäßig einfach, an einem
möglichen griechischen Euro-Austritt Geld zu verdienen: Man muss
sich dafür lediglich bei einer griechischen Bank verschulden und die
entsprechende Kreditsumme in einem der „sicheren“ Euro-Länder
unterbringen – etwa indem man in Deutschland eine Immobilie kauft,
die man mit einer griechischen Hypothek finanziert. Tritt
Griechenland dann aus der Währungsunion aus, würde der Kredit in
Drachmen umgewandelt, sodass sich nach der zu erwartenden massiven
Abwertung die Schulden weitgehend auflösen würden. Die deutsche
Immobilie dagegen behielte ihren Wert in Euro.
Solche
Wetten auf den Grexit sind keine ausgefallenen Finanzkonstruktionen
für diabolische Banker, sondern stehen letztlich jedem offen, der
hinreichend solvent, kreativ und risikobereit ist. Bis zu welchem
Grad sie tatsächlich getätigt werden, entzieht sich meiner
Kenntnis. Kein Zweifel aber besteht darin, dass in den letzten
Monaten viele Griechen, die sich das leisten konnten, ihre Vermögen
nach und nach sicher im Ausland untergebracht haben. Für die
wohlhabende Elite des Landes sinken damit die mit einem Euro-Austritt
verbundenen Risiken – schlimmstenfalls bis zu dem Grad, wo sie aus
dem kollektiven Ruin individuellen Profit ziehen können und somit
die Rationalität des nationalen (und europäischen) Gemeinwohls
gegen die Rationalität des persönlichen Nutzens steht.
Und die Bevölkerung?
Dagegen
lässt sich einwenden, dass der größte Teil der Bevölkerung (all
jene, die nicht von einem im Ausland sicher deponierten Sparvermögen
leben, sondern von einem Lohn, der kaum mehr als den monatlichen
Konsum abdeckt) nach wie vor unter dem Austritt aus der Währungsunion
zu leiden hätte. Dementsprechend sollten Politiker, die mit der
Wiedereinführung der Drachme werben, bei den Wählern kaum auf
Zustimmung stoßen. Und in der Tat gab es bei den griechischen Wahlen
keine ernstzunehmende Partei, die das in ihrem Programm gehabt hätte.
Aber
wäre das auch der Fall, wenn sich die Krise weiter verschärft –
wenn die Rezession anhält, die Arbeitslosigkeit zunimmt, das soziale
Elend wächst, und bei alledem die Europäische Union mit ihrem
radikalen Sparkurs als der Schuldige erscheint? Das Potenzial für
nationalen Populismus ist derzeit enorm, und zwar gleichermaßen in
den südeuropäischen Krisenländern wie in den nordeuropäischen
Nettozahlerstaaten. Sollte sich tatsächlich die politische Elite in
Griechenland für einen Euro-Austritt entscheiden, dann würde es ihr
wohl nicht schwerfallen, mit entsprechender Rhetorik die
Öffentlichkeit anzuheizen und einen Großteil der Bevölkerung auf
ihre Seite zu ziehen. Und sie würde dabei nicht zuletzt auch in
Deutschland auf die Unterstützung der Boulevardmedien und eines
Teils der Regierungsparteien stoßen, die meinen, sich vor den
deutschen Wählern mit einer Bestrafungsaktion gegen die
„Pleite-Griechen“ profilieren zu können: Die bayrische CSU
(EVP), nicht die Syriza war es, die im Mai am häufigsten von einem
Euro-Austritt gesprochen hat.
Mauern gegen die
Irrationalität
Wird
der trojanische Krieg also stattfinden? Natürlich gibt es auch im
heutigen Europa genügend Politiker, die sich für eine vernünftige
Lösung der griechischen Probleme einsetzen: entschieden die nötigen
Verwaltungs- und Strukturreformen voranzubringen, während die
Haushaltskonsolidierung vorerst zurückgestellt wird, um die
Konjunktur nicht weiter abzuwürgen. Aber werden sie sich durchsetzen
können, wenn in absehbarer Zeit die Krise in ihre nächste Runde
geht und sich der Tonfall in der Öffentlichkeit verschärft?
Was
mir Hoffnung macht, dass die Populisten zuletzt erfolglos bleiben
werden, sind vor allem die zeitlichen Hürden. Wäre es möglich,
einen Austritt aus der Eurozone von einem Tag auf den nächsten
umzusetzen, dann bin ich nicht sicher, ob es nicht früher oder
später zu einer solchen Kurzschlusshandlung kommen würde. Doch die
Wiedereinführung der Drachme wäre nicht nur mit einem erheblichen
technischen Aufwand verbunden, sondern auch mit einer ganzen Reihe
von verfassungsrechtlichen Hindernissen: Ein Austritt aus der
Währungsunion ist in den derzeitigen europäischen Verträgen nicht
vorgesehen und müsste deshalb erst einmal in einem separaten
Abkommen zwischen Griechenland und den übrigen Mitgliedstaaten
ausgehandelt werden. Diese zeitliche Dynamik kann wie eine Mauer
gegen die Irrationalität wirken, da sie der Öffentlichkeit in jedem
der beteiligten Länder die Möglichkeit verschaffen würde,
ernsthaft die Vor- und Nachteile des Austritts abzuwägen.
Aber
ob das genügen wird? Nachdem Ulysses sich im letzten Akt des
Theaterstücks von Jean Giraudoux mit Hektor auf einen Abzug der
griechischen Truppen geeinigt hat und von diesem gefragt wird, ob das
nun eine List oder ein Zeichen von Größe sei, gibt er zur Antwort:
Ich versuche in diesem Augenblick nicht Euch zu überlisten, sondern das Schicksal. Es ist mein erster Versuch und darum umso verdienstvoller. […] Ich breche auf … aber ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, dass er sehr weit ist, dieser Weg, der mich von hier zu meinem Schiff führt.
Hoffen
wir für die europäische Währungsunion weiter das Beste!
PS
Kaum
hatte ich diesen Artikel abgeschlossen, da lese ich, dass der
CSU-Generalsekretär Alexander Dobrindt sich wieder einmal für einen
raschen griechischen Austritt aus dem Euro ausgesprochen hat. Oh, die Versuchung muss groß sein!
Bild: Johan Georg Trautmann [Public domain], via Wikimedia Commons.
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