- Eigentlich ist es doch ganz nett, dass man an der Grenze zwischen Bayern und Hessen keinen Pass mehr braucht.
Bei der Schengen-Reform
liegen die Nerven blank. Inzwischen scheint es fast unmöglich zu
sein, sich nüchtern Gedanken darüber zu machen, wie die
EU-Mitgliedstaaten am besten ihre gemeinsamen Außengrenzen sichern
können und in welchen spezifischen Ausnahmefällen der freie
Personenverkehr innerhalb Europas eingeschränkt werden sollte.
Stattdessen entwickelt sich die Frage zum symbolträchtigen
Kräfteringen um das Wesen der EU selbst: Sind wir eine Union von
Staaten, von denen letztlich jeder selbst für seine Sicherheit
verantwortlich ist – oder sind wir eine Union von europäischen
Bürgern, die sich gemeinsam um ihre gemeinsame Innenpolitik kümmern?
Institutionell wird
dieser Konflikt zwischen dem Rat der nationalen Innenminister und dem
Europäischen Parlament ausgetragen. Letzter Höhepunkt war die
gestrige Parlamentsdebatte (Video), wo unter anderem der
liberale Fraktionsvorsitzende Guy Verhofstadt (Open-VLD/ELDR)
vorschlug, die derzeitige dänische Ratspräsidentschaft (die
allerdings bereits in zwei Wochen endet) in allen innenpolitischen
Fragen zu boykottieren. Außerdem wird es eine Klage des Parlaments vor dem Europäischen Gerichtshof geben. Es ist viel
von Misstrauen die Rede – und es ist offensichtlich, dass der
Streit auch in den nächsten Wochen und Monaten weitergehen wird.
Die Hintergründe
Worum es bei dem Konflikt
konkret geht, habe ich hier und hier bereits
ausführlicher dargestellt. Kurz gefasst zeigten sich 2011 einige
Probleme des Schengen-Systems, durch das Personenkontrollen an
innereuropäischen Grenzen abgeschafft wurden: Einerseits zeigte
sich, wie missbrauchsanfällig das derzeitige Ausnahmeregelungssystem
ist, bei dem es keine klaren Vorschriften gibt, unter welchen
außergewöhnlichen Umständen Mitgliedstaaten vorübergehend doch
wieder Grenzkontrollen einrichten können. Andererseits wurde
offensichtlich, dass einige EU-Randstaaten (etwa Griechenland und
Italien) mit der Sicherung der Schengen-Außengrenzen überfordert
sind, sodass einige EU-Binnenstaaten (etwa Deutschland und
Frankreich) einen Zustrom illegaler Einwanderer befürchten.
Infolgedessen
präsentierte die Europäische Kommission einige Reformvorschläge,
in deren Mittelpunkt eine Überarbeitung des sogenannten Schengener
Grenzkodex steht (hier die derzeitige und die
vorgeschlagene Version). Darin werden die Ausnahmeregelungen
genauer gefasst und unter anderem ein neuer Punkt eingeführt, der
die „Auswirkungen
schwerwiegender Mängel bei den Kontrollen an den Außengrenzen“
als Argument zur Wiedereinführung von Binnengrenzkontrollen zulässt.
Wenn also, so die Grundidee, Italien außerstande ist, seine
Außengrenzen vor illegalen Einwanderern aus Afrika zu schützen,
dann sollen künftig Österreich und Frankreich ihrerseits die Grenze
zu Italien schließen dürfen.
Umstritten
an der Reform war zunächst vor allem die Frage, wer in einem
konkreten Fall darüber entscheidet, ob ein solcher
Ausnahmetatbestand gegeben ist oder nicht. Um Missbrauch einzelner
Mitgliedstaaten zu vermeiden, schrieb die Europäische Kommission in
ihrem Vorschlag vor allem sich selbst eine zentrale Rolle zu. Dies
wurde Ende April von Deutschland und Frankreich zurückgewiesen, die
den Mitgliedstaaten mehr Entscheidungsfreiheit lassen wollen. Diese
Woche nun schloss sich der Innenministerrat der deutsch-französischen
Position an. Allerdings ist zweifelhaft, ob er damit durchkommen
wird: Nach Art. 77 AEU-Vertrag
fällt der Schengener Grenzkodex unter das ordentliche Gesetzgebungsverfahren,
bei dem der Rat und das Europäische Parlament zu einer gemeinsamen
Position finden müssen; und da das Parlament in dieser Frage klar
auf Seiten der Kommission steht, wird es entweder einen Kompromiss
geben – oder die Reform wird gänzlich scheitern.
Schengener
Evaluierungsmechanismus
Der
eigentliche Aufreger von dieser Woche war jedoch ein anderer Punkt:
Der Reformvorschlag der Kommission betrifft nämlich nicht nur den
Schengener Grenzkodex, sondern auch den sogenannten Schengener
Evaluierungsmechanismus (Wortlaut).
Dabei handelt es sich um einen neuen eigenständigen Rechtsakt, der
ein Verfahren einführt, mit dem überprüft werden soll, ob die
Mitgliedstaaten ihre Schengener Verpflichtungen einhalten –
darunter auch die Kontrolle der EU-Außengrenzen. Die Feststellung
schwerwiegender Mängel im Rahmen dieses Evaluierungsverfahrens ist
Bedingung dafür, dass die Ausnahmeregelungen des Grenzkodex greifen
können. Um beim obigen Beispiel zu bleiben: Nur wenn durch den
Evaluierungsmechanismus festgestellt wird, dass Italien den
Flüchtlingsstrom nicht unter Kontrolle hat, darf Frankreich seine
Grenze zu Italien schließen.
Was
nun die heftigen Proteste im Europäischen Parlament auslöste, war,
dass der Rat die Rechtsgrundlage dieses Evaluierungsmechanismus
änderte. Für die Kommission stellt der Evaluierungsmechanismus
einen Bestandteil des Schengen-Systems dar, der also wie der
Grenzkodex unter Art. 77 AEU-Vertrag
fällt. Der Rat jedoch beschloss, den Evaluierungsmechanismus
stattdessen auf Art. 70 AEU-Vertrag
zu stützen, in dem der Rat ermächtigt wird, Maßnahmen zur
„Bewertung der Durchführung der [EU-Innenpolitik] durch die
Behörden der Mitgliedstaaten“ zu beschließen.
Diese
Änderung der Rechtsgrundlage hat auf den Inhalt des
Evaluierungsmechanismus zunächst einmal keine Auswirkungen: Die
Durchführung der Evaluierung sollte schon nach dem
Kommissionsvorschlag durch einen speziellen Ausschuss mit Beamten
aller Mitgliedstaaten erfolgen, der dann das Europäische Parlament
nur über die Ergebnisse informiert. Der Unterschied liegt im
Verfahren, mit dem der Evaluierungsmechanismus gegebenenfalls in
Zukunft geändert werden könnte: Während für Entscheidungen nach
Artikel 77 das ordentliche Gesetzgebungsverfahren gilt, beschließt
der Rat Maßnahmen nach Artikel 70 allein.
Technisches
Detail oder Provokation?
Für
den Beschluss des Rates gibt es deshalb zwei unterschiedliche
Interpretationen. Der dänische Justizminister Morten
Bødskov (S/SPE) etwa beteuerte im Europäischen Parlament, es handle
sich nur um eine ganz „unpolitische“ Entscheidung: Da es im
Evaluierungsmechanismus nun einmal darum gehe, die Durchführung von
EU-Innenpolitik durch die Mitgliedstaaten zu bewerten, sei Artikel 70
rechtlich angebracht. Zu derselben Ansicht kam bereits Ende Januar
übrigens auch das European Policy Centre,
ein europäischer Thinktank, der allerdings dem Rat nahelegte, einen
breiteren Kompromiss mit dem Parlament zu suchen.
Aus
Sicht der meisten Europaabgeordneten dagegen handelt es sich bei dem
Ratsbeschluss schlicht um eine unnötige Provokation; und auch die
Innenkommissarin Cecilia Malmström (Mod./EVP), die für den
ursprünglichen Kommissionsentwurf verantwortlich zeichnet, schloss
sich dem Ärger der Parlamentarier an. Denn aus der Sicht der
supranationalen Institutionen erscheint es nicht nur logisch, dass
alle Schengen-Rechtsakte auf derselben Rechtsgrundlage, eben Artikel
77, erfolgen. Vor allem reagieren sie auf die indirekte Botschaft der
Ratsentscheidung: nämlich dass die Innenminister entschlossen sind,
die Kontrolle über das Schengen-System so weit wie möglich selbst
zu behalten – und Kommission und Parlament aus den Entscheidungen
herauszuhalten.
Institutionelle
Logiken
Und
dies ist der Punkt, an dem die Emotionen aufkochen und der Konflikt
zwischen den Organen zu einem Konflikt über das Selbstverständnis
der Europäischen Union insgesamt wird. Der Rat und das Parlament
folgen dabei jeweils ihrer eigenen institutionellen Logik: Für die
nationalen Innenminister geht es darum, den Wähler in ihrem jeweils
eigenen Land das Gefühl von staatlichem Schutz zu geben – wenn
nötig, auch durch die Wiedereinführung von Kontrollen an den
nationalen Grenzen. Der deutsche Innenminister Hans-Peter Friedrich
(CSU/EVP) brachte das kürzlich zum Ausdruck:
„Das Letztentscheidungsrecht bleibt natürlich
bei den Mitgliedstaaten, denn wir sind verantwortlich für die
Sicherheit unserer Bürger.“
Das
Parlament dagegen versteht sich als Vertretung aller europäischen
Bürger und betont deren Recht auf ungestörte Reisefreiheit im
ganzen Schengen-Raum. So erklärte die grüne Fraktionsvorsitzende Rebecca
Harms (Grüne/EGP), das nationale Entscheidungsrecht über die
Wiedereinführung von Binnengrenzen sei „absurd, da ja Schengen von
seiner Idee her übernational konzipiert ist und daher auch die
Entscheidungen auf EU-Ebene […] getroffen werden sollten“. Und
wenn einzelne Staaten mit der Sicherung der Außengrenzen überfordert
sind, dann ist die Lösung aus Sicht von Parlament und Kommission
eben nicht, die Binnengrenzen zu schließen – sondern eine weitere
Supranationalisierung der Einwanderungs- und Grenzschutzpolitik. In
den Worten der Abgeordneten Birgit Sippel (SPD/SPE): „Migration ist
keine nationale Bedrohung, sondern eine Herausforderung, die einen
gemeinsamen Ansatz und Solidarität auf EU-Ebene erfordert.“
Nationale
oder europäische Innenpolitik?
Was
also ist das Wesen der Europäischen Union? Bleiben wir eine
Gemeinschaft von Staaten, die sich in guten Zeiten vertrauen und
bereit sind, den Kontakt zwischen ihren jeweiligen Staatsbürgern zu
erleichtern – die aber für schlechte Zeiten die Möglichkeit
behalten wollen, sich auf sich selbst zurückzuziehen, die
Solidarität mit den Nachbarn zu kappen und ihre Grenzen wieder
hochzuziehen? Oder sind wir eine Gemeinschaft von Bürgern geworden,
die ein gemeinsames europäisches Interesse daran haben, sich frei in
Europa zu bewegen – und deshalb auch bereit sind, den Schutz der
Außengrenzen und der inneren Sicherheit gemeinsamen europäischen
Institutionen anzuvertrauen? Für die nationalen Minister bezieht
sich das Wort „Innenpolitik“ auf das Innere ihres jeweiligen
Staates. Für die europäischen Bürger aber, die sich als solche
verstehen, braucht es in ganz Europa kein Außen mehr zu geben.
Bild: von Kontrollstellekundl (Eigenes Werk) [GFDL oder CC-BY-SA-3.0-2.5-2.0-1.0], via Wikimedia Commons.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen
Kommentare sind hier herzlich willkommen und werden nach der Sichtung freigeschaltet. Auch wenn anonyme Kommentare technisch möglich sind, ist es für eine offene Diskussion hilfreich, wenn Sie Ihre Beiträge mit Ihrem Namen kennzeichnen. Um einen interessanten Gedankenaustausch zu ermöglichen, sollten sich Kommentare außerdem unmittelbar auf den Artikel beziehen und möglichst auf dessen Argumentation eingehen. Bitte haben Sie Verständnis, dass Meinungsäußerungen ohne einen klaren inhaltlichen Bezug zum Artikel hier in der Regel nicht veröffentlicht werden.