Nun hat die neue
Wachstumsrhetorik, die durch die Wahl François Hollandes (PS/SPE)
zum französischen Präsidenten in die europäischen Institutionen eingezogen ist,
auch den Deutschen Bundestag
erreicht. In ihrer gestrigen Regierungserklärung
bekannte sich Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU/EVP) zur „Stärkung
von Wachstum und Beschäftigung“ bei der Bekämpfung der
Euro-Krise. Zugleich nahm sie aber auch eine raffinierte
Differenzierung vor: „Wachstum durch Strukturreformen, das ist
sinnvoll, das ist wichtig, das ist notwendig. Wachstum auf Pump würde
uns jedoch an den Anfang der Krise zurückführen, deshalb werden wir
das so nicht machen.“
Die
Koalitionsfraktionen applaudierten natürlich, und irgendwie klingt
es ja auch wunderbar: ein bisschen reformieren, und mit der
Wirtschaft geht es wieder aufwärts, ohne dass dafür Geld ausgegeben
werden muss. Aber kann ein solcher Plan aufgehen? Dazu einige
Anmerkungen.
Erstens:
Reformen sind gut, aber gute Reformen nicht billig
Grundsätzlich
ist die ökonomische Logik hinter Merkels Forderung nach
Strukturreformen natürlich richtig. In einer Wirtschaft, die sich
nicht zuletzt aufgrund des technischen Fortschritts immer schneller
verändert, müssen auch die ökonomischen Akteure flexibler werden.
Bestes Beispiel ist der Kündigungsschutz: Zu einer Zeit, wo sich die
Geschäftsmodelle von Unternehmen über Jahrzehnte kaum veränderten,
konnte man auch noch lebenslange Arbeitsplätze garantieren. Wenn
inzwischen aber innerhalb weniger Jahre ganze Branchen aussterben
oder neu entstehen, sorgt ein hoher Kündigungsschutz dafür, dass
Arbeitnehmer auf wirtschaftlich nicht mehr sinnvollen Arbeitsplätzen
sitzen bleiben – was natürlich ineffizient ist und das Wachstum
hemmt.
Die
Europäische Union vertritt deshalb bereits seit Verabschiedung der
Europäischen Sozialagenda von 2000 eine generelle Lockerung des
Kündigungsschutzes, allerdings verbunden mit einer gleichzeitigen
Erhöhung der Arbeitslosenhilfe und aktiver Unterstützung von
Arbeitslosen bei der Suche nach einem neuen Job. Allerdings ist es
wichtig, den zweiten Bestandteil dieses sogenannten
Flexicurity-Konzepts nicht
einfach wegzulassen: Wenn – wie in der Krise immer wieder geschehen
– der Kündigungsschutz abgebaut und
gleichzeitig an den Sozialleistungen gespart wird, dann wird die Last
des wirtschaftlichen Strukturwandels allein auf die einzelnen
Arbeitnehmer bzw. Arbeitslosen abgewälzt, und es ist kaum
verwunderlich, dass sich diese dagegen auflehnen. Sinnvoll
durchgeführte Strukturreformen können den Staat also erst einmal
eine ganze Menge Geld kosten, das den hoch verschuldeten
Krisenländern in Südeuropa derzeit fehlt. Solange Merkel hierfür
keine Lösung anbietet (etwa in Form von Eurobonds oder eines
europäischen Finanzausgleichs), wird es kaum ein Ende der Proteste
in Griechenland und anderswo geben.
Zweitens:
Kapitalismus ist immer „Wachstum auf Pump“
Unsinnig
ist außerdem der zweite Teil von Merkels Analyse, in dem sie
„Wachstum auf Pump“ ablehnt: Kreditfinanzierte Investitionen sind
gerade der Kern jeder marktwirtschaftlichen Ökonomie. Da kaum ein
Unternehmer so reich ist, dass er aus eigener Tasche alle Maschinen
bezahlen könnte, die er zur Herstellung seiner Produkte benötigt,
gibt es Banken, die ihm Geld leihen – im Vertrauen darauf, dass er
es wieder zurückbezahlen wird, sobald er seine Waren produziert und
mit einem Mehrwert verkauft hat. Das ist nichts anderes als „Wachstum
auf Pump“, und zugleich völlig alltäglich.
Eine
der Aufgaben des Staates ist es, dabei das richtige Gleichgewicht zu
halten: Wenn die Wirtschaft boomt, werden durch weitere Kredite oft
nur Blasen finanziert; der Staat muss dann bremsend einschreiten,
etwa indem das Parlament die Steuern oder die Zentralbank die Zinsen
erhöht. Das Gegenteil ist der Fall, wenn sich die Wirtschaft wie
jetzt in einer Depression befindet: Da die Aussichten für die
nächsten Jahre schlecht sind und die Banken Angst haben, dass
Unternehmen Pleite gehen und ihre Kredite nicht zurückzahlen,
bleiben langfristig eigentlich sinnvolle und notwendige Investitionen
aus. In dieser Situation muss der Staat zu einer konjunkturellen
Wiederbelebung beitragen – und sei es, indem er selbst neue
Schulden aufnimmt (die er dann natürlich in der nächsten Boom-Phase
wieder abbauen muss). Das ist das Einmaleins antizyklischer
Wirtschaftspolitik und würde uns ganz sicher nicht „an den Anfang
der Krise zurückführen“.
Drittens:
Vorbild Hartz-Reformen?
Gerne
wird von der Bundesregierung auch darauf verwiesen, dass Deutschland
selbst in den vergangenen zehn Jahren gewaltige Reformanstrengungen
durchgeführt hat, um seine Wettbewerbsfähigkeit zu verbessern –
mit dem Ergebnis, dass es heute von allen europäischen Ländern
wirtschaftlich am besten dasteht. Könnte die Agenda 2010 also
das leuchtende Vorbild für Südeuropa sein? Davon abgesehen, dass
auch Hartz IV mit einer Senkung des sozialen Schutzes verbunden war
und damit nicht ganz das Ideal der Flexicurity erfüllte: Paul
Krugman erklärt in seiner jüngsten Kolumne, weshalb das Argument nicht ganz so einfach
ist, wie die Bundesregierung es zu machen versucht.
Talk to German opinion leaders about the euro crisis, and they like to point out that their own economy was in the doldrums in the early years of the last decade but managed to recover. What they don’t like to acknowledge is that this recovery was driven by the emergence of a huge German trade surplus vis-à-vis other European countries — in particular, vis-à-vis the nations now in crisis — which were booming, and experiencing above-normal inflation, thanks to low interest rates. Europe’s crisis countries might be able to emulate Germany’s success if they faced a comparably favorable environment — that is, if this time it was the rest of Europe, especially Germany, that was experiencing a bit of an inflationary boom.Spricht man mit deutschen Meinungsführern über die Euro-Krise, verweisen sie gerne darauf, dass ihre eigene Wirtschaft Anfang des letzten Jahrzehnts in Schwierigkeiten war, aber darüber hinweggekommen ist. Was sie nicht gern zugeben, ist, dass dieser Aufschwung von der Entstehung eines gewaltigen deutschen Handelsüberschusses gegenüber anderen europäischen Ländern – vor allem gegenüber den heutigen Krisenländern – angetrieben wurde, die dank niedriger Zinsen einen Boom und eine überdurchschnittliche Inflation erlebten. Europas Krisenländer könnten Deutschlands Erfolg nachahmen, wenn sie sich in einer ähnlich günstigen Umgebung befänden – das heißt, wenn diesmal der Rest von Europa, vor allem Deutschland, ein bisschen Inflationsboom erleben würde.
Nun
gibt es erste Anzeichen dafür, dass Deutschland sich auf einen
solchen Anstieg der Inflation einlassen könnte: Vor einigen Tagen
hat sich Finanzminister Wolfgang Schäuble (CDU/EVP) für höhere
Löhne in den
laufenden Tarifverhandlungen ausgesprochen,
und Bundesbankpräsident Jens Weidmann hat erklärt,
die Preissteigerung in Deutschland könne demnächst „zeitweise
über dem Durchschnitt“ liegen. Aber ob das genügt, ist
zweifelhaft: Noch immer sind die Probleme Südeuropas heute größer
und das wirtschaftliche Umfeld in der Eurozone schlechter als in
Deutschland vor zehn Jahren.
Viertens:
Was ist das Neue?
Was
jedoch bei Merkels Äußerungen am erstaunlichsten ist: Wenn sie
jetzt „Wachstum durch Strukturreformen“ als den neuen Weg aus der
Krise entdeckt, was glaubt sie eigentlich, dass die betroffenen
Staaten in all den vergangenen Jahren getan haben? Eine der
Bedingungen für die Notkredite an Griechenland, Irland und Portugal
waren ja gerade umfassende Reformen am Arbeitsmarkt und im
Sozialsystem, und auch Italien und Spanien haben solche Maßnahmen in
massiver Weise angegangen. Wenn Merkel jetzt auf solche Reformen als
Quell möglichen Wachstums verweist, dann will sie offenbar nur die
alte Politik in neue Worte verpacken. Aber die Kombination von
Austerität und Strukturreformen hat drei Jahre lang nicht genügt,
um die Krise zu überwinden – warum sollten jetzt noch mehr
Austerität und noch mehr Strukturreformen die Lösung bringen?
Man
könnte argumentieren: weil die Reformen eben einige Zeit brauchen,
bevor sie zu wirken beginnen. Weil man, um ohne staatliche
Konjunkturprogramme aus der Krise zu kommen, nur lange genug die
Zähne zusammenbeißen muss. Und weil es nötig ist, ab und zu neue
Begriffe in die öffentliche Arena zu werfen, damit die Wählerschaft
bei der Stange gehalten wird. Indem Merkel die alte Politik nicht
mehr mit „Sparen“, sondern mit „Wachstum“ verbindet, versucht sie François Hollandes Forderung
nach einem Wachstumspakt ins Leere laufen zu lassen – und meint dadurch die notwendige
Zeit zu gewinnen, damit die Strukturreformen ihre Wirkung entfalten können.
Nur
die Rhetorik zu ändern genügt nicht
Doch
wahrscheinlich wird diese Rechnung nicht aufgehen: zum einen, weil
man einer Depression wie dieser so ganz ohne antizyklische
Wirtschaftspolitik eben doch nicht so einfach entkommen kann. Und zum
anderen, weil die Krise schon allzu lang dauert und das dadurch
entstandene Elend schon allzu groß geworden ist. Die Erfolge von
Links- und Rechtsextremen bei den Wahlen in Griechenland, aber auch
das überraschend gute Ergebnis von Marine Le Pen in Frankreich und
der Aufstieg programmlos-populistischer Protestparteien in ganz
Europa zeigen, in welcher Gefahr
sich unser gesamtes politisches System inzwischen befindet.
Der
Versuch, die Krise allein mit ein paar rhetorischen Änderungen
auszusitzen, wird deshalb nicht gelingen. Um den Aufstieg radikaler
Parteien zu verhindern, müssen die Krisenländer wieder eine klare
Perspektive bekommen – und zwar nicht nur als ein vages Versprechen
auf eine bessere Zukunft in zehn oder fünfzehn Jahren, sondern
jetzt. Merkels Strukturreformen mögen sinnvoll, wichtig und
notwendig sein. Aber wenn sich die Bundesregierung nicht bald auf ein
europäisches Konjunkturprogramm einlässt, dann sieht es für die
Demokratie in Europa nicht gut aus, von der Europäischen
Währungsunion ganz zu schweigen.
Bild: By Ralf Roletschek (Own work) [CC-BY-SA-3.0-at or CC-BY-SA-3.0], via Wikimedia Commons.
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