21 April 2012

Schengen und die nationale Souveränität

Manche Dinge sollte es in Europa nur noch auf Schwarz-Weiß-Fotos aus den fünfziger Jahren geben.
Zuerst die gute Nachricht: Dass Hans-Peter Friedrich (CSU/EVP) und Claude Guéant (UMP/EVP) sich gestern in einem Brief für eine erleichterte Wiedereinführung von Grenzkontrollen innerhalb der EU eingesetzt haben, ist sehr wahrscheinlich nur Wahlkampfgetöse – für die französischen Präsidentschaftswahlen morgen und vielleicht auch die Landtagswahlen in Schleswig-Holstein und Nordrhein-Westfalen. Selbst wenn sie den Ministerrat von ihrer Position überzeugen würden, können die Schengen-Regeln nur auf Vorschlag der Europäischen Kommission und mit Zustimmung des Europäischen Parlaments verändert werden, die einen solchen Angriff auf einen Kernbestandteil der europäischen Integration wohl kaum mittragen werden. Und dass die dänische Ratspräsidentschaft bereits angekündigt hat, den deutsch-französischen Vorschlag nicht auf dem nächsten Innenministerrat, sondern frühestens im Juni (also nach den Wahlen) besprechen zu wollen, deutet darauf hin, dass auch die anderen Regierungen die Initiative nicht allzu ernst nehmen.

Nun die schlechte Nachricht: Dass zwei der wichtigsten Innenpolitiker der Europäischen Volkspartei meinen, sich angesichts schlechter Umfragewerte mit Nationalrhetorik profilieren zu können, wirft wieder einmal ein sehr zweifelhaftes Licht auf die Christdemokraten, die sich doch selbst als „proeuropäisch“ bezeichnen. Und es könnte den politischen Diskurs über die Freizügigkeit und die innere Sicherheit in Europa um fünfundzwanzig Jahre zurückwerfen. Denn was Friedrich und Guéant offensichtlich nicht begriffen haben, ist, dass es neben den nationalen Staatsbürgerrechten inzwischen auch Rechte aus der europäischen Unionsbürgerschaft gibt.

Schengener Grenzkodex

Und darum es geht es bei dem ganzen Ärger: Im Schengener Abkommen vereinbarte 1985 zunächst nur ein kleiner Teil der europäischen Staaten, alle Personenkontrollen an ihren Binnengrenzen abzuschaffen, um die Mobilität zwischen den Ländern zu erleichtern. Im Gegenzug wurde ein gemeinsames System bei der Bewachung der Außengrenzen und der Erteilung von Visa an Nicht-EU-Bürger eingeführt. Im Lauf der Zeit wurde das Schengener Abkommen um immer mehr Länder erweitert; durch den Vertrag von Amsterdam wurde es 1997 Teil des EU-Rechts. Gemäß Art. 77 AEU-Vertrag gilt für Maßnahmen in diesem Bereich inzwischen das ordentliche Gesetzgebungsverfahren, bei dem Rat und Parlament gleichberechtigt beteiligt sind. Nach diesem Verfahren wurde auch der Schengener Grenzkodex verabschiedet, in dem sich die derzeit geltenden Regelungen zu den Binnengrenzkontrollen finden.

Dieser Grenzkodex erlaubt es den Mitgliedstaaten (in Art. 23ff.), „im Falle einer schwerwiegenden Bedrohung der öffentlichen Ordnung oder inneren Sicherheit“ vorübergehend wieder Kontrollen an den Binnengrenzen einzuführen. Der Mitgliedstaat muss dafür eine öffentliche Rechtfertigung abgeben und mit den anderen EU-Organen nach Alternativoptionen suchen; letztlich trifft er die Entscheidung über Ausmaß und Dauer der Kontrollen aber allein. Sollte ein Staat diese Möglichkeit missbrauchen, wäre die einzige Handhabe ein Vertragsverletzungsverfahren der Kommission vor dem Europäischen Gerichtshof. Lange Zeit war das jedoch nie ein Thema – eine Wiedereinführung von Kontrollen fand tatsächlich nur ausnahmsweise statt, meistens anlässlich von Fußball-Großereignissen, um einreisende Hooligans zu überwachen.

Missbrauchsgefahr der Ausnahmebestimmungen

Dann aber häuften sich vor einem Jahr die Ereignisse. Zunächst einmal lösten sich mit dem arabischen Frühling die Polizeistaaten in Nordafrika auf, die bis dahin im Auftrag der EU die Migration nach Europa schon südlich des Mittelmeers unterbunden hatten. Angesichts des einsetzenden Flüchtlingsstroms nach Italien begann daraufhin die Regierung Berlusconi (PdL/EVP), Schengen-Touristenvisa auszustellen – in der Hoffnung, dass möglichst viele der Einwanderer in andere EU-Staaten weiterreisen würden. Die französische Regierung (mit Innenminister Claude Guéant!) sah darin eine schwerwiegende Bedrohung der öffentlichen Ordnung und reagierte mit der Wiedereinführung von Grenzkontrollen bei Einreisen aus Italien. Und im allgemeinen Aufruhr preschte die dänische Regierung vor und richtete ihrerseits ganz ohne Anlass, nur getrieben von ihrem rechtspopulistischen Partner und schlechten Umfragewerten, Kontrollen an den Grenzen zu Deutschland und Schweden ein.

Bevor es zu einer weiteren Eskalation kam, fanden Italien und Frankreich zu einer Einigung und in Dänemark wurden nach einem Regierungswechsel sämtliche Kontrollen wieder aufgehoben. Dennoch war die Missbrauchsanfälligkeit des Grenzkodex nun offensichtlich, und es mehrten sich die Stimmen, die eine eindeutige Regelung forderten, unter welchen Umständen die Wiedereinführung von Grenzkontrollen erlaubt sein soll.

Risiko und Chance einer Reform

Dabei war von Anfang an klar, dass eine solche Reform mit einem Risiko verbunden ist: Dass der Grenzkodex in der Frage der Wiedereinführung von Binnengrenzkontrollen bisher so offen ist, macht gerade deutlich, dass diese tatsächlich nur in seltenen, besonders begründungspflichtigen Ausnahmesituationen stattfinden dürfen. Durch eine klarere Regelung würden solche Fälle dagegen normalisiert: Für die Mitgliedstaaten wäre es dann politisch viel leichter, einseitige Maßnahmen zu beschließen und durch einen simplen Verweis auf die einschlägigen Bestimmungen zu rechtfertigen. Man darf deshalb davon ausgehen, dass es öfter zu einer Wiedereinführung von Grenzkontrollen kommen würde.

Zugleich bietet die Reform jedoch auch eine Chance: Indem die Entscheidung den einzelnen Mitgliedstaaten entzogen und auf europäischer Ebene angesiedelt wird, könnte einem Missbrauch dauerhaft vorgebeugt werden. Genau das war der Kern des Reformvorschlags, den die Kommission im vergangenen September vorstellte (hier im Wortlaut). Die Regierungen sollen demnach künftig nur noch für maximal fünf Tage einseitig Grenzkontrollen einführen können – alles, was darüber hinausgeht, würde die Zustimmung der Kommission verlangen.

Gegen diesen Vorschlag nun wendet sich die Initiative von Guéant und Friedrich. In ihrem gemeinsamen Brief an die dänische Ratspräsidentschaft (hier der Wortlaut der französischen Version) fordern sie, dass ein Mitgliedstaat bis zu dreißig Tage lang einseitig Grenzkontrollen beschließen kann. Und nach diesen dreißig Tagen soll die Entscheidung über eine Fortsetzung der Kontrollen nicht bei der Kommission, sondern beim Ministerrat liegen.

Der Ministerrat ist als Kontrollorgan ungeeignet

Diese Initiative ist nun für den Zweck der Reform ziemlich offensichtlich weniger geeignet als der Vorschlag der Kommission: Während die Kommission das europäische Gesamtinteresse verfolgt, sind die nationalen Regierungen nur vor ihrer jeweils eigenen Bevölkerung verantwortlich. Sie neigen deshalb eher nicht dazu, miteinander allzu streng zu sein – man denke nur daran, wie penibel der Ministerrat vor der Finanzkrise die Einhaltung des Stabilitäts- und Wachstumspakts überwachte! An einer Stelle in dem deutsch-französischen Brief betonen Guéant und Friedrich, dass es bei der Anwendung der Ausnahmebestimmungen des Grenzkodex bisher niemals zu „Schwierigkeiten oder Missbrauch seitens der Mitgliedstaaten“ gekommen sei (Zitat nach der französischen Version). Wenn sie die Ereignisse von 2011 aber allesamt für völlig unproblematisch halten, ab wann würden die Minister dann überhaupt von Missbrauch sprechen?

Doch die Reform des Schengener Grenzkodex ist, wie gesagt, glücklicherweise nicht allein Sache der nationalen Regierungen, sondern auch des Europäischen Parlaments, wo man, wenigstens im linken und liberalen Spektrum, die Errungenschaften der europäischen Integration in der Regel etwas ernster nimmt. Zwar ist die Fraktion der Europäischen Volkspartei in letzter Zeit zunehmend zum Unsicherheitsfaktor geworden, doch auch da waren die ersten Reaktionen auf den deutsch-französischen Vorstoß mehrheitlich negativ. Und solange die EVP nicht umkippt, wird die Mehrheit im Parlament sich wohl kaum auf eine derartige Machtverlagerung an den Innenministerrat einlassen. Schlimmstenfalls bliebe dann einfach alles beim Alten – was letztlich wohl darauf hinauslaufen würde, dass es bei dem nächsten Fall Dänemark tatsächlich zu einem Vertragsverletzungsverfahren kommt und dann der Europäische Gerichtshof entscheidet, ab wann eine „schwerwiegende Bedrohung der öffentlichen Ordnung“ gegeben ist.

Dumpfe Souveränitätsrhetorik

Was bleibt, ist damit nur die dumpfe Rhetorik dieses deutsch-französischen Briefes: Friedrich und Guéant schreiben von der „Notwendigkeit, die nationale Souveränität und Kompetenz der Mitgliedstaaten“ zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung zu bewahren, und sehen das als „nicht verhandelbar“ an (Zitat nach der französischen Version). Und für diese unverhandelbare Souveränität sollen die Europäer eine Einschränkung ihrer Freizügigkeit und die Wiedereinführung von Binnengrenzkontrollen in Kauf nehmen?

Wir dürfen als Staatsbürger verlangen, dass unsere Regierungen ein Mindestmaß an öffentlicher Sicherheit gewährleisten. Wir haben aber als Unionsbürger auch das Recht, die europäischen Grenzen ungestört zu überschreiten, ohne dabei durch Polizeikontrollen behelligt zu werden. Nun steht außer Frage, dass diese beiden Ansprüche in Konflikt miteinander geraten können, wenn etwa die Regierung eines Mitgliedstaats mit einer Bedrohungssituation nicht fertig wird, die sich über die offenen Grenzen in andere Staaten ausbreiten könnte. Aber die Lösung, die in diesem Fall den Sicherheits- und den Freiheitswunsch am besten miteinander verbindet, ist eine Verbesserung der polizeilichen Zusammenarbeit auf europäischer Ebene – und nicht der Rückzug auf die nationale Souveränität und die Wiedererrichtung der Schlagbäume an den europäischen Binnengrenzen.

Und wenn es für manchen nationalen Innenminister noch so schwer zu verstehen ist: Es gibt in der Europäischen Union nicht mehr nur nationale Staatsvölker. Es gibt schon längst auch eine Gemeinschaft der Unionsbürger. Und denen ist es wichtiger, dass sie sich in ganz Europa frei bewegen können, als dass ein lächerliches Abstraktum staatlicher Souveränität gewahrt wird.

Bild: Bundesarchiv, B 145 Bild-F000250-0050 / CC-BY-SA [CC-BY-SA-3.0-de], via Wikimedia Commons.

2 Kommentare:

  1. Die Nationen sind die Herren der Vertraege! Das sollten wir niemals vergessen. Mehr Transparenz, bitte. Sonst sind wir bald in einer Situation unklarer "Interessen", wie in der des vorletzten Bundespraesidenten, der nur sagte, was jeder weiss, aber nicht sagt. Was sind die deutschen Interssen in Europa, ueber die keiner spricht? Arbeitsplaetze sind nur eine Umschreibung. Wer bezahlt? In jedem Fall die Arbeitnehmer!

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  2. Ach, die Herren der Verträge... Das bedeutet doch nichts anderes, als dass die Mitgliedstaaten die Kompetenz zur Vertragsänderung haben. Irgendwelche normativen Schlüsse braucht man daraus nicht abzuleiten. Die Grundlage jeder demokratischen Politik sind nicht die Interessen der Staaten (oder "Nationen"), sondern der einzelnen Bürger. Und die werden von ihren gewählten Abgeordneten in Straßburg und Brüssel ebenso vertreten wie von denen in Berlin, Paris oder Kopenhagen.

    Aber in welcher "Situation unklarer Interessen" befinden wir uns bald? Meine Interessen am Schengener Abkommen habe ich in dem Beitrag hier jedenfalls benannt: Ich will, dass staatlicherseits ein Minimum an öffentlicher Sicherheit gewährleistet wird, und ich will Reisefreiheit ohne Grenzkontrollen. Ich gehe davon aus, dass diese Wünsche von den meisten anderen europäischen Bürgern geteilt werden. Und wenn die EU in der Lage ist, diese Wünsche zu erfüllen, die nationalen Regierungen jedoch nicht, dann kann ich auf eine nationale Souveränität, die den Interessen der Bürger zuwiderläuft, mit Freuden verzichten.

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