Zuerst die gute
Nachricht: Dass Hans-Peter Friedrich (CSU/EVP) und Claude Guéant
(UMP/EVP) sich gestern in einem Brief für eine erleichterte
Wiedereinführung von Grenzkontrollen innerhalb der EU
eingesetzt haben, ist sehr wahrscheinlich nur Wahlkampfgetöse –
für die französischen Präsidentschaftswahlen morgen und vielleicht
auch die Landtagswahlen in Schleswig-Holstein und
Nordrhein-Westfalen. Selbst wenn sie den Ministerrat von ihrer
Position überzeugen würden, können die Schengen-Regeln nur auf
Vorschlag der Europäischen Kommission und mit Zustimmung des
Europäischen Parlaments verändert werden, die einen solchen Angriff
auf einen Kernbestandteil der europäischen Integration wohl kaum
mittragen werden. Und dass die dänische Ratspräsidentschaft bereits
angekündigt hat, den deutsch-französischen Vorschlag nicht auf dem
nächsten Innenministerrat, sondern frühestens im Juni (also nach
den Wahlen) besprechen zu wollen, deutet darauf hin, dass auch die
anderen Regierungen die Initiative nicht allzu ernst nehmen.
Nun die schlechte
Nachricht: Dass zwei der wichtigsten Innenpolitiker der Europäischen
Volkspartei meinen, sich angesichts schlechter Umfragewerte mit
Nationalrhetorik profilieren zu können, wirft wieder einmal ein sehr
zweifelhaftes Licht auf die Christdemokraten, die sich doch selbst
als „proeuropäisch“ bezeichnen. Und es könnte den politischen
Diskurs über die Freizügigkeit und die innere Sicherheit in Europa
um fünfundzwanzig Jahre zurückwerfen. Denn was Friedrich und Guéant
offensichtlich nicht begriffen haben, ist, dass es neben den
nationalen Staatsbürgerrechten inzwischen auch Rechte aus der
europäischen Unionsbürgerschaft gibt.
Schengener Grenzkodex
Und darum es geht es bei
dem ganzen Ärger: Im Schengener Abkommen vereinbarte 1985 zunächst
nur ein kleiner Teil der europäischen Staaten, alle
Personenkontrollen an ihren Binnengrenzen abzuschaffen, um die
Mobilität zwischen den Ländern zu erleichtern. Im Gegenzug wurde
ein gemeinsames System bei der Bewachung der Außengrenzen und der
Erteilung von Visa an Nicht-EU-Bürger eingeführt. Im Lauf der Zeit
wurde das Schengener Abkommen um immer mehr Länder erweitert; durch
den Vertrag von Amsterdam wurde es 1997 Teil des EU-Rechts. Gemäß
Art. 77 AEU-Vertrag gilt für
Maßnahmen in diesem Bereich inzwischen das ordentliche Gesetzgebungsverfahren, bei dem
Rat und Parlament gleichberechtigt beteiligt sind. Nach diesem
Verfahren wurde auch der Schengener Grenzkodex
verabschiedet, in dem sich die derzeit geltenden Regelungen zu den
Binnengrenzkontrollen finden.
Dieser
Grenzkodex erlaubt es den Mitgliedstaaten (in Art. 23ff.), „im
Falle einer schwerwiegenden Bedrohung der öffentlichen Ordnung oder
inneren Sicherheit“ vorübergehend wieder Kontrollen an den
Binnengrenzen einzuführen. Der Mitgliedstaat muss dafür eine
öffentliche Rechtfertigung abgeben und mit den anderen EU-Organen
nach Alternativoptionen suchen; letztlich trifft er die Entscheidung
über Ausmaß und Dauer der Kontrollen aber allein. Sollte ein Staat
diese Möglichkeit missbrauchen, wäre die einzige Handhabe ein
Vertragsverletzungsverfahren der Kommission vor dem Europäischen
Gerichtshof. Lange Zeit war das jedoch nie ein Thema – eine
Wiedereinführung von Kontrollen fand tatsächlich nur ausnahmsweise
statt, meistens anlässlich von Fußball-Großereignissen, um
einreisende Hooligans zu überwachen.
Missbrauchsgefahr
der Ausnahmebestimmungen
Dann
aber häuften sich vor einem Jahr die Ereignisse. Zunächst einmal
lösten sich mit dem arabischen Frühling die Polizeistaaten in
Nordafrika auf, die bis dahin im Auftrag der EU die Migration nach
Europa schon südlich des Mittelmeers unterbunden hatten. Angesichts
des einsetzenden Flüchtlingsstroms nach Italien begann daraufhin die
Regierung Berlusconi (PdL/EVP), Schengen-Touristenvisa auszustellen –
in der Hoffnung, dass möglichst viele der Einwanderer in andere
EU-Staaten weiterreisen würden. Die französische Regierung (mit
Innenminister Claude Guéant!) sah darin eine schwerwiegende Bedrohung
der öffentlichen Ordnung und reagierte mit der Wiedereinführung von
Grenzkontrollen bei Einreisen aus Italien. Und im allgemeinen Aufruhr
preschte die dänische Regierung vor und richtete ihrerseits ganz
ohne Anlass, nur getrieben von ihrem rechtspopulistischen Partner und
schlechten Umfragewerten, Kontrollen an den Grenzen zu Deutschland
und Schweden ein.
Bevor
es zu einer weiteren Eskalation kam, fanden Italien und Frankreich zu
einer Einigung und in Dänemark wurden nach einem Regierungswechsel
sämtliche Kontrollen wieder aufgehoben. Dennoch war die
Missbrauchsanfälligkeit des Grenzkodex nun offensichtlich, und es
mehrten sich die Stimmen, die eine eindeutige Regelung forderten,
unter welchen Umständen die Wiedereinführung von Grenzkontrollen
erlaubt sein soll.
Risiko
und Chance einer Reform
Dabei
war von Anfang an klar, dass eine solche Reform mit einem Risiko
verbunden ist: Dass der Grenzkodex in der Frage der Wiedereinführung von Binnengrenzkontrollen bisher so offen ist,
macht gerade deutlich, dass diese tatsächlich nur
in seltenen, besonders begründungspflichtigen Ausnahmesituationen
stattfinden dürfen. Durch eine klarere Regelung würden solche Fälle
dagegen normalisiert: Für die Mitgliedstaaten wäre es dann politisch
viel leichter, einseitige Maßnahmen zu beschließen und durch einen
simplen Verweis auf die einschlägigen Bestimmungen zu rechtfertigen.
Man darf deshalb davon ausgehen, dass es öfter zu einer
Wiedereinführung von Grenzkontrollen kommen würde.
Zugleich
bietet die Reform jedoch auch eine Chance: Indem die Entscheidung den
einzelnen Mitgliedstaaten entzogen und auf europäischer Ebene
angesiedelt wird, könnte einem Missbrauch dauerhaft vorgebeugt
werden. Genau das war der Kern des Reformvorschlags,
den die Kommission im
vergangenen September vorstellte (hier
im Wortlaut). Die Regierungen sollen demnach künftig nur
noch für maximal fünf Tage einseitig Grenzkontrollen einführen
können – alles, was darüber hinausgeht, würde die Zustimmung
der Kommission verlangen.
Gegen diesen Vorschlag nun wendet sich die Initiative von Guéant und Friedrich. In ihrem gemeinsamen Brief an die dänische Ratspräsidentschaft (hier der Wortlaut der französischen Version) fordern sie, dass ein Mitgliedstaat bis zu dreißig Tage lang einseitig Grenzkontrollen beschließen kann. Und nach diesen dreißig Tagen soll die Entscheidung über eine Fortsetzung der Kontrollen nicht bei der Kommission, sondern beim Ministerrat liegen.
Gegen diesen Vorschlag nun wendet sich die Initiative von Guéant und Friedrich. In ihrem gemeinsamen Brief an die dänische Ratspräsidentschaft (hier der Wortlaut der französischen Version) fordern sie, dass ein Mitgliedstaat bis zu dreißig Tage lang einseitig Grenzkontrollen beschließen kann. Und nach diesen dreißig Tagen soll die Entscheidung über eine Fortsetzung der Kontrollen nicht bei der Kommission, sondern beim Ministerrat liegen.
Der
Ministerrat ist als Kontrollorgan ungeeignet
Diese
Initiative ist nun für den Zweck der Reform ziemlich offensichtlich
weniger geeignet als der Vorschlag der Kommission: Während die
Kommission das europäische Gesamtinteresse verfolgt, sind die
nationalen Regierungen nur vor ihrer jeweils eigenen Bevölkerung
verantwortlich. Sie neigen deshalb eher nicht dazu, miteinander allzu
streng zu sein – man denke nur daran, wie penibel der Ministerrat
vor der Finanzkrise die Einhaltung des Stabilitäts- und
Wachstumspakts überwachte! An einer Stelle in dem
deutsch-französischen Brief betonen Guéant und Friedrich, dass es
bei der Anwendung der Ausnahmebestimmungen des Grenzkodex bisher
niemals zu „Schwierigkeiten oder Missbrauch seitens der
Mitgliedstaaten“ gekommen sei (Zitat nach der französischen
Version). Wenn sie die Ereignisse von 2011 aber allesamt für völlig
unproblematisch halten, ab wann würden die Minister dann überhaupt
von Missbrauch sprechen?
Doch die Reform des Schengener Grenzkodex ist, wie gesagt,
glücklicherweise nicht allein Sache der nationalen Regierungen,
sondern auch des Europäischen Parlaments, wo man, wenigstens im
linken und liberalen Spektrum, die Errungenschaften der europäischen
Integration in der Regel etwas ernster nimmt. Zwar ist die Fraktion der
Europäischen Volkspartei in letzter Zeit zunehmend zum
Unsicherheitsfaktor geworden, doch auch da waren die ersten Reaktionen auf den deutsch-französischen Vorstoß mehrheitlich negativ. Und solange die EVP nicht umkippt, wird die Mehrheit im
Parlament sich wohl kaum auf eine derartige Machtverlagerung an den
Innenministerrat einlassen. Schlimmstenfalls bliebe dann einfach
alles beim Alten – was letztlich wohl darauf hinauslaufen würde,
dass es bei dem nächsten Fall Dänemark tatsächlich zu einem
Vertragsverletzungsverfahren kommt und dann der Europäische
Gerichtshof entscheidet, ab wann eine „schwerwiegende Bedrohung der
öffentlichen Ordnung“ gegeben ist.
Dumpfe
Souveränitätsrhetorik
Was
bleibt, ist damit nur die dumpfe Rhetorik dieses
deutsch-französischen Briefes: Friedrich und Guéant schreiben von
der „Notwendigkeit, die nationale Souveränität und Kompetenz der
Mitgliedstaaten“ zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung zu
bewahren, und sehen das als „nicht verhandelbar“ an (Zitat nach
der französischen Version). Und für diese unverhandelbare
Souveränität sollen die Europäer eine Einschränkung ihrer
Freizügigkeit und die Wiedereinführung von Binnengrenzkontrollen in
Kauf nehmen?
Wir
dürfen als Staatsbürger verlangen, dass unsere Regierungen ein
Mindestmaß an öffentlicher Sicherheit gewährleisten. Wir haben
aber als Unionsbürger auch das Recht, die europäischen Grenzen
ungestört zu überschreiten, ohne dabei durch Polizeikontrollen
behelligt zu werden. Nun steht außer Frage, dass diese beiden
Ansprüche in Konflikt miteinander geraten können, wenn etwa die
Regierung eines Mitgliedstaats mit einer Bedrohungssituation nicht
fertig wird, die sich über die offenen Grenzen in andere Staaten
ausbreiten könnte. Aber die Lösung, die in diesem Fall den
Sicherheits- und den Freiheitswunsch am besten miteinander verbindet,
ist eine Verbesserung der polizeilichen Zusammenarbeit auf
europäischer Ebene – und nicht der Rückzug auf die nationale
Souveränität und die Wiedererrichtung der Schlagbäume an den
europäischen Binnengrenzen.
Und
wenn es für manchen nationalen Innenminister noch so schwer zu
verstehen ist: Es gibt in der Europäischen Union nicht mehr nur
nationale Staatsvölker. Es gibt schon längst auch eine Gemeinschaft
der Unionsbürger. Und denen ist es wichtiger, dass sie sich in ganz
Europa frei bewegen können, als dass ein lächerliches Abstraktum
staatlicher Souveränität gewahrt wird.
Bild: Bundesarchiv, B 145 Bild-F000250-0050 / CC-BY-SA [CC-BY-SA-3.0-de], via Wikimedia Commons.
Die Nationen sind die Herren der Vertraege! Das sollten wir niemals vergessen. Mehr Transparenz, bitte. Sonst sind wir bald in einer Situation unklarer "Interessen", wie in der des vorletzten Bundespraesidenten, der nur sagte, was jeder weiss, aber nicht sagt. Was sind die deutschen Interssen in Europa, ueber die keiner spricht? Arbeitsplaetze sind nur eine Umschreibung. Wer bezahlt? In jedem Fall die Arbeitnehmer!
AntwortenLöschenAch, die Herren der Verträge... Das bedeutet doch nichts anderes, als dass die Mitgliedstaaten die Kompetenz zur Vertragsänderung haben. Irgendwelche normativen Schlüsse braucht man daraus nicht abzuleiten. Die Grundlage jeder demokratischen Politik sind nicht die Interessen der Staaten (oder "Nationen"), sondern der einzelnen Bürger. Und die werden von ihren gewählten Abgeordneten in Straßburg und Brüssel ebenso vertreten wie von denen in Berlin, Paris oder Kopenhagen.
AntwortenLöschenAber in welcher "Situation unklarer Interessen" befinden wir uns bald? Meine Interessen am Schengener Abkommen habe ich in dem Beitrag hier jedenfalls benannt: Ich will, dass staatlicherseits ein Minimum an öffentlicher Sicherheit gewährleistet wird, und ich will Reisefreiheit ohne Grenzkontrollen. Ich gehe davon aus, dass diese Wünsche von den meisten anderen europäischen Bürgern geteilt werden. Und wenn die EU in der Lage ist, diese Wünsche zu erfüllen, die nationalen Regierungen jedoch nicht, dann kann ich auf eine nationale Souveränität, die den Interessen der Bürger zuwiderläuft, mit Freuden verzichten.