Anfang Januar habe ich an dieser
Stelle über die Frage geschrieben, was die EU tun kann, um
das Abgleiten Ungarns in einen neuen Autoritarismus zu verhindern.
Seitdem ist einige Zeit vergangen, und auch wenn das Thema weitgehend
aus den Medien verschwunden ist, hat sich die Lage nicht gebessert.
Wir haben uns nur daran gewöhnt.
Nun kann man den EU-Organen nicht
vorwerfen, in der Sache völlig untätig geblieben zu sein, doch
mangels vertraglicher Kompetenzen blieben sie weitgehend machtlos. Noch im Januar
eröffnete die Europäische Kommission mehrere Vertragsverletzungsverfahren wegen Verstößen der neuen
ungarischen Verfassung gegen geltendes Europarecht. Diese aber
betreffen lediglich institutionelle Randaspekte – die
Unabhängigkeit der Zentralbank und des Datenschutzbeauftragten sowie
die Frühpensionierung von Richtern –, nicht den Kern des Problems:
die Einschränkung der Medienfreiheit und anderer Grundrechte.
Entsprechend hatte der ungarische Regierungschef Viktor Orbán
(Fidesz/EVP) auch wenig Schwierigkeiten damit, in diesen Bereichen
ein wenig Kompromissbereitschaft zu zeigen, allerdings nicht
ohne öffentlich zu erklären, er beuge sich „nur der Macht,
nicht den Argumenten“ der Kommission. Diese wiederum revanchiert
sich gerade, indem sie an Ungarn ein fiskalpolitisches Exempel statuiert und dem Land 500
Millionen Euro an Fördergeldern einfriert,
offiziell wegen seines anhaltenden Haushaltsdefizits. Ob das
wirklich hilft, die Lage zu verbessern, ist mehr als fraglich.
Vorsichtige
Schritte des Europäischen Parlaments
Auch das Europäische Parlament wurde
aktiv, wenigstens ein bisschen. Schon Anfang Januar hatte dort die
Fraktion der Grünen/EFA ein Verfahren nach Art. 7 Abs. 1 EU-Vertrag angeregt. Dabei
kann das Parlament dem Europäischen Rat vorschlagen, die „eindeutige
Gefahr einer schwerwiegenden Verletzung“ der europäischen
Grundwerte – Demokratie, Menschenrechte, Rechtsstaatlichkeit –
durch einen Mitgliedstaat festzustellen. Der Vorteil an diesem
Verfahren ist, dass es vom Parlament selbst eingeleitet werden kann
und im Europäischen Rat nur eine Vier-Fünftel-Mehrheit erfordert. Der Nachteil ist, dass es sich auf naming
and shaming beschränkt
und keinerlei
rechtliche Folgen hat: Sanktionen gegen den betreffenden Staat gibt
es nur bei einem Verfahren nach Art. 7 Abs. 2 EUV,
das aber einen einstimmigen Beschluss der Staats- und Regierungschefs
voraussetzt, was allgemein als unüberwindliche Hürde gilt.
So
oder so jedoch will das Europäische Parlament offensichtlich nichts
überstürzen: Vergangene Woche beschloss das Plenum erst einmal eine
Resolution,
in der es den Justizausschuss auffordert, in Zusammenarbeit mit der
Kommission einen Bericht zu erstellen, auf dessen Grundlage es dann
ein Art.-7-I-Verfahren „prüfen“ will. Verabschiedet wurde diese
vorsichtige Resolution mit den Stimmen der vier Fraktionen des linken
und liberalen Spektrums (GUE/NGL, Grüne/EFA, S&D und ALDE). Die
Europäische Volkspartei als Dachorganisation der ungarischen
Regierungspartei Fidesz scheiterte dagegen mit ihrem Gegenantrag,
in dem sie „die unbegründeten Vorwürfe gegen Ungarn“ zurückwies
und die neue ungarische Verfassung unter Verweis auf den „Grundsatz
der Souveränität der Völker“ verteidigte – der vorläufige
Höhepunkt einer langen Reihe von Peinlichkeiten, die zeigen, dass
auf die Christdemokraten im Ringen um die Bürgerrechte in Ungarn
offensichtlich nicht zu zählen ist.
Eine „umgekehrte Solange-Doktrin“?
Angesichts
dieser verfahrenen Lage zeichnet sich jedoch gerade die Möglichkeit
einer ganz anders gearteten Lösung ab: nämlich in Form einer
Weiterentwicklung des europäischen Verfassungsrechts. Wie das
aussehen könnte, hat eine Gruppe von Europarechtlern um Armin von
Bogdandy vor kurzem im Verfassungsblog dargelegt,
wo darüber seitdem eine spannende
Debatte
mit Beiträgen zahlreicher prominenter Juristen und
Politikwissenschaftler stattfindet. Der Kern der Idee besteht darin,
dass der Europäische Gerichtshof sich selbst dafür zuständig
erklären sollte, die nationale Gesetzgebung von Mitgliedstaaten, die
auf nationaler Ebene keinen wirksamen Grundrechteschutz mehr bieten,
anhand der EU-Grundrechtecharta zu überprüfen. Bogdandy und seine
Mitautoren sprechen dabei auch von einer „umgekehrten
Solange-Doktrin“ – in Anspielung auf die deutsche
Solange-Rechtsprechung,
derzufolge das Bundesverfassungsgericht darauf verzichtet, die
EU-Gesetzgebung an den Grundrechten der deutschen Verfassung zu
messen, aber nur „solange die Europäischen Gemeinschaften […]
einen wirksamen Schutz der Grundrechte […] gewährleisten, der dem
vom Grundgesetz als unabdingbar gebotenen Grundrechtsschutz im
Wesentlichen gleichzuachten ist“.
Gegenüber dem traditionellen Verständnis der europäischen
Grundrechte wäre dieses umgekehrte Solange ein großer Sprung: Immerhin erklärt Artikel 51 der EU-Grundrechtecharta
ausdrücklich, dass diese „für
die Mitgliedstaaten ausschließlich bei der Durchführung des Rechts
der Union“ gilt – also eben nicht auf nationales Recht anwendbar
ist. Auf Artikel 11 der Grundrechtecharta, der die freie Meinung schützt, könnte man sich also nur berufen, wenn eine Verordnung oder Richtlinie
der EU die Medienfreiheit verletzt, nicht wenn die Verfassung eines
Mitgliedstaats das tut. Bogdandy und seine Mitautoren schlagen vor,
diese Einschränkung wenigstens für Extremfälle zu überwinden, und
verweisen dafür auf den „Kernbestand der Unionsbürgerschaft“,
der ein Mindestmaß an Grundrechteschutz auch gegenüber der
nationalen Gesetzgebung erforderlich mache.
Europäischer Verfassungsmoment
Ob der Europäische
Gerichtshof sich in künftigen Urteilen dieser Argumentation anschließen wird, ist natürlich offen.
Es wäre sicher ein starkes Stück an gerichtlicher Rechtsfortbildung
– würde sich aber durchaus in die Tradition des Gerichtshofs einfügen, der schon seit den
1960er Jahren immer wieder spektakuläre neue Vertragsauslegungen
gefunden und damit die europäische Integration entscheidend
vorangetrieben hat. Allerdings wurde an diesem Aktivismus der
Europarichter auch schon häufig Kritik geübt, da er einseitig die
übernationale Ebene begünstige und zu De-facto-Vertragsänderungen
führe, zu denen der EuGH nicht demokratisch legitimiert ist. Und bis zu einem
gewissen Grad hat dieser Vorwurf zweifellos seine Berechtigung: Aufgabe von Richtern ist es, Recht zu sprechen, nicht Recht zu schaffen, und wenn sie die (zuweilen fließende) Grenze dazwischen allzu oft überdehnen, droht ihnen der Verlust ihrer öffentlichen Akzeptanz.
Im Fall der „umgekehrten Solange-Doktrin“ jedoch wäre es nur wünschenswert, wenn der Gerichtshof wieder einmal Mut zeigen würde. Die Ohnmacht der europäischen Institutionen gegenüber Ungarn hat gezeigt, dass die bisherigen Schutzmechanismen der EU-Verträge nicht genügen; zugleich muss man davon ausgehen, dass die Mitgliedstaaten in absehbarer Zeit keine Vertragsreform einleiten werden, um Artikel 7 EUV schärfere Zähne zu verleihen – schon weil die ungarische Regierung selbst das verhindern könnte. Wenn es der Europäischen Union aber nicht gelingt, in ihrem Inneren Demokratie und Rechtsstaatlichkeit zu sichern, dann sind die Fundamente ihres Wertesystems in Gefahr.
Im Fall der „umgekehrten Solange-Doktrin“ jedoch wäre es nur wünschenswert, wenn der Gerichtshof wieder einmal Mut zeigen würde. Die Ohnmacht der europäischen Institutionen gegenüber Ungarn hat gezeigt, dass die bisherigen Schutzmechanismen der EU-Verträge nicht genügen; zugleich muss man davon ausgehen, dass die Mitgliedstaaten in absehbarer Zeit keine Vertragsreform einleiten werden, um Artikel 7 EUV schärfere Zähne zu verleihen – schon weil die ungarische Regierung selbst das verhindern könnte. Wenn es der Europäischen Union aber nicht gelingt, in ihrem Inneren Demokratie und Rechtsstaatlichkeit zu sichern, dann sind die Fundamente ihres Wertesystems in Gefahr.
Es ist nicht gut
vorstellbar, dass in einer solch existenziellen Legitimationskrise
irgendjemand dem Europäischen Gerichtshof einen Vorwurf machen
könnte, wenn er zum Schutz der Bürgerrechte in Ungarn durch
kreative Vertragsinterpretation seine eigenen Kompetenzen erweitert.
Der amerikanische Rechtsphilosoph Bruce Ackerman hat solche Krisen
als constitutional moments bezeichnet: Phasen, in denen die
Öffentlichkeit ein solches politisches Bewusstsein entwickelt, dass
sie bereit ist, auch auf informellem Weg entstandene
Verfassungsänderungen zu akzeptieren. Was sich seit den letzten zwei
Jahren in Ungarn abspielt, schreit zum Himmel, und die „umgekehrte
Solange-Doktrin“ ist eine schlüssige Antwort darauf: So wie die
nationalen Verfassungsgerichte ein Auge darauf halten, ob der
Europäische Gerichtshof auf EU-Ebene für einen angemessenen
Grundrechteschutz sorgt, so sollte künftig der EuGH darauf achten,
ob die Gerichte der Mitgliedstaaten das auf nationaler Ebene tun.
Wenn das die Lösung ist, so sei sie willkommen.
Bild: By uzo19 (Own work) [GFDL, CC-BY-SA-3.0 or CC-BY-2.5], via Wikimedia Commons.
"Auf informellem Weg entstandene Verfassungsänderungen" sind stets der Anfang vom Ende...
AntwortenLöschenDer Anfang vom Ende wovon? Es gab im Lauf der deutschen, amerikanischen, europäischen Verfassungsgeschichte schon eine ganze Menge solcher informeller Verfassungsänderungen (man denke in Deutschland zum Beispiel an das Grundrecht zur informationellen Selbstbestimmung), und die Welt ist daran nicht zugrunde gegangen - im Gegenteil.
AntwortenLöschenDer Anfang vom Ende (konstitutioneller) demokratischer Rechtsstaatlichkeit.
AntwortenLöschenVerfassungsänderungen außerhalb des in einer Verfassung selbst hierfür vorgesehenen Verfahrens sind schlechterdings verfassungswidrig.
Allzumal, wenn sie nicht vom pouvoir constituant ausgehen.
Richterliche Rechtsfortbildung innerhalb (verfassungs)rechtlicher Grenzen ist grundsätzlich ein anderer Sachverhalt. - Gleichwohl auch diese freilich zu verfassungswidrigem Recht führen kann, soweit sie den von der Verfassung vorgegebenen Rahmen verlässt.
Na, dann unbesorgt: Bei der „umgekehrten Solange-Doktrin“ würde es sich natürlich nur um richterliche Rechtsfortbildung innerhalb der verfassungsrechtlichen Grenzen handeln. Wie von mir angedeutet und von Armin von Bogdandy und Mitautoren ausgeführt, würde eine solche Neuinterpretation durchaus auf der seit dem Ruiz-Zambrano-Fall etablierten EuGH-Rechtsprechung zur Unionsbürgerschaft aufbauen. Um aus dem Beitrag im Verfassungsblog zu zitieren:
AntwortenLöschenBedeutet das aber nicht einen eklatanten Bruch der vertraglich vorgesehenen und in Art. 51 Grundrechtecharta betonten Kompetenzordnung? Dass dem nicht so ist, sei in aller Kürze dargelegt: Erstens dehnt unser Vorschlag nicht den Anwendungsbereich der Charta aus, sondern zielt allein auf eine bessere Durchsetzung des grundrechtlichen Wesensgehalts, wie er in Art. 2 EUV zur Geltung kommt. Dass aber Art. 2 EUV jede Ausübung öffentlicher Gewalt der Mitgliedstaaten erfasst und mittels Art. 7 EUV von der EU durchgesetzt werden kann, steht außer Frage. Es geht mithin nicht um die unionale Verbandskompetenz, sondern allein um die Organkompetenz des EuGH. Für diese ist aber zweitens zu beachten, dass der Vertrag von Lissabon nun Art. 2 EUV erstmals der Zuständigkeit des EuGH und damit dessen verfassungsrechtlichen Auftrag unterstellt, die „Wahrung des Rechts“ zu sichern. Unser Vorschlag erfüllt also lediglich mit Leben, was die „Herren der Verträge“ bereits vorgegeben haben.
Es geht um eine mutige Auslegung, nicht um einen Bruch der Verfassungsordnung. Selbstverständlich impliziert solch ein Wandel in der Verfassungsdeutung immer auch eine Änderung der Verfassungswirklichkeit. Aber das ist in allen konstitutienellen Demokratien der Welt schon vorgekommen und ganz gewiss keine Gefahr für die Rechtsstaatlichkeit. (Im Gegensatz übrigens zur derzeitigen ungarischen Verfassung.)