Man stelle sich vor, ein Mitgliedstaat der Europäischen Währungsunion – nennen wir ihn A – befände sich in einer schweren Wirtschafts- und Finanzkrise, die die Stabilität der gesamten Eurozone gefährdet. Um mit dieser Krise umzugehen, stünden drei Optionen zur Auswahl:
(1) ein vom Euro-Rettungsschirm abgefederter Schuldenschnitt, verbunden mit harten Sparauflagen, die in A zu Sozialkürzungen, Rezession und Arbeitslosigkeit führen;
(2) ein sofortiger Staatsbankrott von A und ein Austritt aus der Eurozone, mit der Folge einer Abwertung der neuen nationalen Währung, dem weitgehenden Verlust der Barvermögen, dafür aber der Chance auf steigende Exporte und ein Ende der Rezession, zugleich verbunden mit unkalkulierbaren Ansteckungsrisiken für andere Mitgliedstaaten der Währungsunion (nennen wir sie B und C) und das europäische Bankensystem;
(3) ein vom Euro-Rettungsschirm abgefederter Schuldenschnitt, verbunden mit Sparauflagen, aber auch mit einem gesamteuropäisch (d.h. von den wirtschaftsstarken Mitgliedstaaten, unter denen vor allem Land D hervorsticht) finanzierten Konjunkturpaket, durch das die Wirtschaft von A wiederbelebt und die Arbeitslosigkeit reduziert wird.
Fragt man die Regierung oder Bevölkerung in A, so werden diese unter allen drei Alternativen ziemlich sicher die ersten beiden ablehnen und die dritte bevorzugen, mit der das Land saniert wird, ohne zu verelenden. Von den drei Optionen steht A jedoch nur die zweite ohne Weiteres zur Verfügung, da für die beiden anderen schließlich das Geld anderer Mitgliedstaaten wie D vonnöten ist. Will A also eine andere Lösung als die zweite, so muss es sich an den Europäischen Rat wenden.
Im Europäischen Rat wiederum hat die Regierung des wirtschaftlich starken D das Sagen. Fragt man diese nun, welche der drei Optionen zur Lösung der Krise angewandt werden soll, so wird sie zwar die dritte gegenüber der zweiten bevorzugen, um die unkalkulierbaren Kosten eines sofortigen Staatsbankrotts und eines Zerfalls der Währungsunion zu vermeiden. Zwischen der ersten und dritten aber wird sie sich für die erste entscheiden, da sie die Version ohne Konjunkturpaket schließlich billiger kommt.
Einigt sich der Europäische Rat deshalb auf die erste Option, so ist die dritte vom Tisch – noch nicht aber die zweite, da diese ja A auch ohne fremde Hilfe offen steht. Und nun wendet sich also die A-Regierung an ihre Bevölkerung, und lässt diese in einem Referendum über das Spektrum der verbliebenen Alternativen (1 und 2) entscheiden.
Wenn sich die A-Bevölkerung nun zwischen diesen beiden für Option 2 entscheiden sollte, so wäre das für D und seine Regierung das schlimmstmögliche Ergebnis. Wer trägt dann die Verantwortung dafür, dass die Zukunft der Eurozone auf dem Spiel steht?
Hinweis: Im Theorieblog wird gerade gefragt, ob es eigentlich gute Gründe gegen das griechische Referendum gibt. Das wichtigste Gegenargument ist meiner Meinung nach die Gefahr, dass dabei eine pareto-suboptimale Lösung beschlossen wird – eben Option 2, die sowohl die Griechen als auch Deutschland und der Rest der Eurozone für schlechter halten als Option 3. Das Problem besteht aber nicht im Referendum allein, sondern im ganzen Entscheidungsverfahren, in dem erst Option 3 ausgeschlossen wurde, bevor dann über die anderen beiden Alternativen abgestimmt wird.
Wäre Papandreou klug gewesen, so hätte er übrigens das Referendum über die Beschlüsse des Europäischen Rates vor dem Gipfel angekündigt: Mit diesem Bewusstsein wären die Bedingungen für Griechenland wahrscheinlich deutlich besser ausgefallen, vielleicht hätte man sich gleich auf Option 3 geeinigt. Aber auf die Dauer kann es auch nicht die Lösung sein, dass wir Europäer uns permanent gegenseitig mit Referendumsdrohungen erpressen.
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